08.11.2021
Ein Musterprozess für die Rechte der Jenischen und Sinti
Ein Beitrag von Daniel Huber und Willi Wottreng.
Der Wohnwagen ist von hoher symbolischer Bedeutung; er steht für eine Erwerbs- und Lebensweise unserer Volksgruppen von Jenischen, Sinti und Roma. In der Schweiz verwendet man diese drei Begriffe parallel. Jenische und Sinti sind als nationale Minderheiten anerkannt, ein Roma-Begehren für Anerkennung ist hängig. Obwohl nur eine Minderheit dieser Menschen im Wohnwagen als sogenannte «Fahrende» unterwegs ist, ist der Wohnwagen – auf jenisch «das Scharotl» genannt - ein Teil der kollektiven Identität; zumindest bei Jenischen und Sinti. Und für die Hassgegner auch. Rassismus hat also oft mit der Frage der Stand- und Durchgangsplätze zu tun.
Dabei nimmt der Rassismus verschiedene Formen an. Es gibt einerseits den offenen Rassismus, der sich dank der Antirassismus-Strafnorm bekämpfen lässt, gestützt auch auf die Grundrechte in der Bundeserfassung, die Rechtsgleichheit und das Diskriminierungsverbot. Wenn also Menschen die jahrhundertealten Vorurteile gegen «Zigeuner» mobilisieren, lässt sich das einklagen, und das ist schon mit Erfolg geschehen. Es kostet allerdings Zeit, Geld und Nerven.
Es gibt nun aber auch noch das, was wir institutionellen Rassismus nennen. Institutionell heisst, dass er von gewichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ausgeht. Institutionell daran ist aber auch, dass er sich hinter scheinbar legalem Handeln versteckt und die rassistischen Motive dahinter nicht offen zeigt. Darum ist er auch schwieriger zu bekämpfen.
Ein Beispiel: Der Schweizer Staat ist verpflichtet, beizutragen, um Lebensraum für Jenische, Sinti und Roma zu schaffen. Das ist eine Folge der Unterzeichnung der Konvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, die in der Schweiz 1999 in Kraft trat. An diesem Minderheitenschutz müssen sich alle drei staatlichen Ebenen beteiligen: Bund, Kantone und Gemeinden. Seit Jahren plante der Kanton St. Gallen einen Durchgangsplatz für Jenische und Sinti in der Gemeinde Thal im Rheintal. Diese stellte sich quer, nachdem ein einflussreicher Bürger mit einer hasserfüllten rassistischen Eingabe, die versteckt blieb, den Gemeinderat bedrängt hatte. Ein einziges Mitglied dieses Rates nahm im Innern des Gemeinderates gegen die Verwirklichung des Platzes Stellung. Entgegen demokratischen Gepflogenheiten hatte der Rat nun aber beschlossen, dass er in diesem heiklen Thema nur bei Einstimmigkeit eine Zusage zum geplanten Platz gegeben würde. Der Gemeinderat sagte also im Mai 2019 Nein, und der Kanton nahm das so zur Kenntnis: Der Platz soll nicht verwirklicht werden. Das ist ein Ergebnis des institutionellen, des versteckten, aber wirkungsmächtigen Rassismus.
Die Radgenossenschaft hat gegen diesen Beschluss Rekurs erhoben. Sie ist die Dachorganisation der Jenischen und Sinti der Schweiz der Schweiz, die als nationale Minderheit anerkannt sind, und sie unterstützt auch Roma-Anliegen. Nach zwei Instanzen folgte der Rekurs ans Bundesgericht. Auf den unteren Ebenen wollte man der Radgenossenschaft das Recht absprechen, für die sogenannten «Fahrenden» zu sprechen. Dieses Recht ist der Organisation schliesslich von der zweiten Instanz, dem Verwaltungsgericht, zugestanden worden. Ein wichtiger Teilerfolg. Weiterhin aber wird gesagt, es gebe ja gar keinen Beschluss, gegen den die «Fahrenden» Einspruch erheben könnten, weil das Ganze nur eine Angelegenheit zwischen Kanton und Gemeinden sei. Die Radgenossenschaft führt diesen Musterprozess dennoch weiter und dies allenfalls bis vor internationale Gremien.
Denn das Kernproblem ist, dass die Grundrechte der Minderheiten, die auch in der Minderheitenkonvention von der Schweiz anerkannt sind, nicht aktiv von den Behörden eingefordert werden können. Die Betroffenen können nur klagen, wenn ihre Grundrechte durch Behördenentscheide verletzt werden und das braucht oft weitere formale Voraussetzungen an das Bestehen eines Beschlusses. Die Radgenossenschaft verlangt aber, dass die Minderheiteninteressen nicht ständig übergangen werden.
Es gibt also in der Schweiz zwar einen gewissen verfassungsmässigen und gesetzlichen Schutz der Minderheiten gegen Rassismus. Aber der einzige wirklich wirksame Schutz ist: politisch Druck aufsetzen, die eigenen Leute mobilisieren, die Öffentlichkeit mobilisieren. Unruhe hervorrufen. Thal in St.Gallen ist ein Beispiel.
Fotocredits: Andreas Praefke. Zur Illustration.