06.10.2021
Wenn religiöse Überzeugungen systemgefährdend sind
Ein Beitrag von Riki Neufeld.
Am 5. Januar 1527 wurde Felix Manz von den kirchlichen und staatlichen Behörden Zürichs hingerichtet. Er wurde an Händen und Füssen gebunden in die Limmat geworfen und war somit einer der ersten von über 3000 Täufer:innen, die in Westeuropa durch staatliche Gewalt ums Leben gekommen sind.
Der Grund für die Hinrichtung von Manz ist aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar. Er war weder Räuber noch Mörder und war wie Zwingli ein tiefgläubiger Mensch, der den gleichen Gott fürchtete und mit seinem Leben danach trachtete, den Willen dieses Gottes zu tun. Täufer wie Manz waren darüber hinaus prinzipiell dafür bekannt, dass sie (oft) hoch solidarisch in der Gesellschaft waren, Nächstenliebe durch konkrete Hilfeleistungen in der Nachbarschaft praktizierten und nach einem Prinzip der Gewaltfreiheit lebten.
Und trotzdem waren dieser und zahlreiche weitere Täufer während hunderten von Jahren für das bestehende System so gefährlich, das sie beseitigt werden mussten. Die Bedrohung für das System bestand aber nicht im privaten Glauben dieser Täufer. Eigentlich kann jede Person im privaten Kämmerlein des eigenen Verstandes sich die Weltanschauung und den Glauben zusammenbasteln, die für sie passen. Problematisch wird es erst, wenn der Glaube eine Auswirkung auf die Lebensführung hat; brenzlig, wenn die Lebensführung entgegen der gesellschaftlichen Ordnung steht und richtig gefährlich dann, wenn dieser Glaube und die dementsprechende Lebensführung propagiert wird und immer mehr Sympathisant:innen gewinnt.
In einer Zeit, in der die Kirche auf vielen Ebenen mit dem Staat verbunden war, hatten Felix Manz und einige seiner Freunde aus der Bibel heraus erkannt, dass einige etablierte Praktiken, wie zum Beispiel die Kindertaufe, auch reformbedürftig seien. Der mündige Mensch sollte sich zur Taufe entscheiden dürfen und mit diesem Entscheid seine Absicht zum Ausdruck bringen, mit dem ganzen Leben ein Teil der Gemeinde Christi sein zu wollen. Dieser Glaube und diese Praxis brachten die gesellschaftliche Ordnung insofern durcheinander, dass die Taufbücher der Kirchen gleichzeitig als eine Art Zivilregister ihrer Zeit dienten. Wenn Eltern nun ihre Kinder nicht mehr zur Taufe brachten, verlor der Staat einen signifikanten Überblick in Bezug auf die eigene Bevölkerung.
Aber auch eine zweite Glaubensüberzeugung von Manz wurde zu einer grossen Bedrohung für das System. Die Täufer glaubten, dass es nicht der Wille ihres Herrn Jesus Christus sei, auch im Sinne der Selbst- und Landesverteidigung zu den Waffen zu greifen. Sie glaubten an eine radikale Wehrlosigkeit und verkündeten überall, dass diese Wehrlosigkeit zum wahren christlichen Glauben gehöre. Schon bald tat sich implizit hiermit die Frage auf: wer verteidigt das Land vor feindlichen Angriffen, wenn sich immer mehr Leute weigern in den Krieg zu gehen? Was ist, wenn mit einmal alle im Lande anfangen würden so zu glauben und dementsprechend zu handeln?
Felix Manz und seine Freunde bekamen am Anfang noch die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse wider einer Kindertaufe in Disputationen mit Zwingli und anderen Vertretern der Reformierten Kirche zu präsentieren. Schon bald wurde aber im Kirchenrat entschieden, dass dies nicht der Weg für die Kirche sei. In all den Aufbrüchen und Veränderungen der Zeit, ging die Forderung, dass die Kirche die Praxis der Kindertaufe ablehnen sollte, einfach zu weit. Sprengte es schlicht und einfach die Vorstellungskraft, wie Kirche und Gesellschaft ohne diese Praxis auskommen könnte?
Mit der Entscheidung, an der Kindertaufe festzuhalten, wurde auch gleich die harte Massnahme getroffen, dass Manz ein Redeverbot bekam und sich zukünftig nicht mit anderen Kindertaufgegnern versammeln durfte. Man versuchte diese Glaubensüberzeugungen im Keim zu ersticken, denn die Folgen waren für das bestehende System zu gefährlich.
Felix Manz war aber so stark von seinen Überzeugungen ergriffen, dass er die staatlich verordneten Verbote ignorierte und weit herum reiste, um für seine Auffassungen zu werben. Immer mehr Menschen waren von seinen Predigten überzeugt und schlossen sich den Täufern an, indem sie sich zum zweiten Mal taufen liessen und ihre Neugeborenen nicht zur Taufe und Registrierung brachten.Nach zwei Inhaftierungen, die bei Manz zu keiner Gesinnungsänderung führten, wurde er schliesslich zwei Jahre nach den öffentlichen Disputationen hingerichtet.
Seither ist viel passiert. In den letzten Jahrzehnten kam es zu mehreren Versöhnungsprozessen und Feiern zwischen der Reformierten Kirche und den Täufern. Die tragische Geschichte wurde mehrfach aufgearbeitet und Schuldbekenntnisse wie auch Vergebungszusprüche haben von einem Gegeneinander zu einem Miteinander der beiden Kirchen beigetragen. Heutzutage kann jede Schweizer:in frei entscheiden, ob sie ihr Kind taufen möchte oder nicht und seit 1992 gibt es für männliche Schweizer auch die Möglichkeit, durch einen Zivildienst ihre Wehrpflicht zu erfüllen, auch wenn letzteres vor noch nicht so langer Zeit unvorstellbar für das Schweizer System war. Für den Umgang mit Andersdenkenden und Andersglaubenden bleibt aber folgende Frage bis heute relevant: Wie gehen wir mit alternativen Gedanken zu einer Glaubens- und Lebensgestaltung um, wenn diese implizit unser bestehendes System herausfordern und in Frage stellen?
Grosse Teile der Täufer hat seit dem 16. Jahrhundert konsequent an einer physischen Gewaltfreiheit festgehalten, auch wenn die Überzeugungen in den beiden Weltkriegen besonders in Europa stark gebröckelt haben. Das kann man aber keineswegs in Bezug auf verbale, psychische und soziale Gewalt sagen. Auch in Täufer-Kreisen gab es durch die Geschichte hindurch immer wieder Andersdenkende und nicht selten haben sie soziale Ausgrenzung erfahren müssen, die durchaus gewalttätig ist.
Bestehende Systeme können unter anderem eine Sicherheit und Klarheit geben, die durchaus wertvoll sein kann, besonders wenn sich vieles im Umfeld verändert. Diese Sicherheit ist nicht zu unterschätzen. Und doch sind Systeme immer im Wandel und gerade Andersdenkende können solch einen Wandel manchmal stärker beschleunigen als vielen lieb ist. Ein prinzipieller Verzicht auf Gewalt kann die Vorstellungskraft beflügeln, wie ein System auch gerade die unangenehmen Stimmen integrieren kann.
Quellen: Mennonitica Helvetica 41. http://www.mennlex.de/doku.php?id=art:/mantz_felix.
Fotocredits: Roland Fischer. Zur Illustration.