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13.07.2021

Paul Grünigers Brücke zwischen Leben und Tod

Ein Beitrag von Jonathan Kreutner.

 

Zugegeben, sehr schön oder speziell gebaut ist sie nicht, die Brücke über den Rhein, welche nach Paul Grüninger benannt ist. Aber dafür sehr symbolisch. Denn genau in Richtung solcher Grenzübergänge, wie eben diese Rheinbrücke, strömten in den Jahren 1938 und 1939 Tausende von Flüchtlingen aus dem Deutschen Reich. Es waren vor allem Juden, aber auch politisch Verfolgte. Die Annektierung Österreichs im März 1938 und die Pogromnacht am 9. November desselben Jahres hatten die Situation noch einmal verschärft. 

 

In dieser Nacht des 9. November 1938 verliessen meine Grosseltern väterlicherseits mit meinem Vater (damals ein Baby) Hals über Kopf das heimische Wien, wo mein Grossvater bewusstlos geschlagen wurde. Drei Wochen später überquerten sie den Rhein bei Diepoldsau, gleich unterhalb der heutigen Grüninger-Brücke. Das Wasser war eiskalt. Mein Vater fiel in den Rhein und schrie. Mein Grossmutter schleppte sich, ihren schwerverletzten Ehemann und ihr nasses Kleinkind an das Schweizer Ufer des Rheines, wo sie von Schweizer Grenzbeamten aufgegriffen wurde. Den Beamten sagte sie, sie könnten sie erschiessen, aber umkehren würde sie nicht mehr.dabei auch Zollbeamte Alfons Eigenmann, der Mitleid mit der kleinen Familie hatte und sie, obwohl es verboten war, in die Schweiz liess und in seinem privaten Eigenheim pflegte. Doch Eigenmann wusste nicht wie weiter und rief noch am selben Abend seinen Chef Hauptmann Paul Grüninger in St. Gallen an. Dieser erteilte ihm die Weisung, dass die Familie Kreutner in der Schweiz bleiben kann. Damit rettete er meinen Grosseltern und meinem Vater das Leben. Das war im Jahr 1938.

 

Im gleichen Jahr wurde auch der sogenannte «Judenstempel» eingeführt, so dass deutsche und österreichische Juden durch ihren Pass gleich als solche erkennbar waren. Und die Schweiz anerkannte jüdische Menschen nicht als politisch Verfolgte. Eine Abweisung an der Grenze war darum meistens Normalfall. 

 

Für Paul Grüninger, St. Galler Polizeikommandant im Rang eines Hauptmanns, war dies jedoch ein unhaltbarer Zustand. Und er appellierte auch an seine Kollegen innerhalb der kantonalen Polizei: Die Rückweisung der Flüchtlinge ginge schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Man müsste so viele wie möglich hereinlassen. Genau das tat er mit meinen Vorfahren. Mit diesem Gedanken stand er jedoch oft alleine da. So entschied sich Grüninger, selbst zu handeln. Er datierte Einreisevisa von Flüchtlingen vor und fälschte zusätzlich auch andere Dokumente, um so den Männern, Frauen und Kindern die Einreise in die Schweiz zu ermöglichen. Dieses illegale, aber überaus ethisch menschliche Handeln, rette viele Menschen. Hunderte Menschen konnten so vor dem fast sicheren Tod während des Holocausts bewahrt werden. Auch meine Grosseltern und mein Vater waren darunter. 

 

1939 flog Grüninger auf. Er wurde vom Dienst suspendiert, vor Gericht verurteilt und ihm wurde seine Pension aberkannt. Den Rest seines Lebens verbrachte er mit Aushilfsjobs und von seinen ehemaligen politischen Weggefährten geächtet. Erst 1993, über 20 Jahre nach seinem Tod, wurde er von der St. Galler Regierung rehabilitiert und vom Bundesrat geehrt. 

 

Gutes zu tun wurde leider in der Vergangenheit oftmals nicht gewürdigt und sogar bestraft. Wegen seiner guten Tat musste Paul Grüninger die letzten 30 Jahre seines Lebens verfemt und in Armut leben. Und trotzdem sagte er bis zu seinem Tod, dass er wieder genau gleich handeln würde. So spricht ein Held, an dem sich alle Menschen ein Vorbild nehmen können.  

 

Mein Vater erwies Paul Grüninger 2012 die Ehre, als er als einer der letzten noch lebenden Juden, die bei Diepoldsau den Rhein überquerten, an der Eröffnung der Brücke eine Rede halten durfte. Ein paar Jahre später stand mein Vater für eine Fernsehreportage wieder auf der Grüninger-Brücke und blickte auf die Stelle, wo er auf den Armen seiner Mutter von der Hölle gerettet wurde. Jene Brücke, die für ihn den Übergang zwischen sicherem Tod und Leben bedeutete. 

 

Foto: Dietmar Walser, Jüdisches Museum Hohenems