14.07.2021
Der harmlose Hermes
Ein Beitrag von Hans Fässler.
Den ersten St.Galler Hermes habe ich wahrgenommen, als ich 2018 meinen ersten Stadtrundgang «Auf den Spuren von Rassismus» vorbereitete. Er ist aus Metall und sitzt in einem Boot auf dem Dach des heutigen UBS-Gebäudes am Rösslitor am Rande der St.Galler Altstadt. Der wuchtige Jugendstilbau wurde 1891 als Geschäftssitz der «Schweizerischen Unionbank» fertiggestellt. Der griechische Hermes, den die Römer.innen später dann Merkur nannten, wird den St.Galler.innen als «Gott des Handels» präsentiert. Man erkennt ihn jeweils am geflügelten Helm und dem Stab, der ebenfalls geflügelt und von Schlangen umwunden ist. Der Hermes auf dem UBS-Gebäude hat ausserdem noch ein doppelt eingeschnürtes Textilpaket bei sich und blickt nach Westen, in Richtung der amerikanischen Absatzmärkte der St.Galler Textilindustrie der Jahrhundertwende.
Der zweite St.Galler Hermes begegnete mir über der Eingangstüre des markanten Gebäudes beim Hauptbahnhof, das 1908 als Filiale der «Eidgenössischen Bank» errichtet wurde und später ebenfalls die UBS beherbergte, bevor es zum Verwaltungsgebäude der Bodensee-Toggenburg-Bahn (heute Südostbahn) – und schliesslich zum Tibits-Restaurant wurde. Zwei Reliefs flankieren hier den «Gott des Handels»: das linke unter dem Titel «Handel unter Kulturvölkern», das rechte mit der Bezeichnung «Handelsverkehr mit den Urvölkern». Jetzt stellten sich mir erstmals Fragen: Sollte etwa Handel nicht gleich Handel sein? Was sind «Kulturvölker» und was sind «Urvölker»? Was ist überhaupt Handel? Und was tut eigentlich ein Kaufmann?
Der Kaufmann (auch: der Händler, der Handelsbankier, der Geschäftsmann, der Unternehmer, der Krämer, der Dealer, der An- und Verkäufer, der Investor, der Import-Export-Fachmann, der Supply-Chain-Manager) geniesst in der Geschichte im Allgemeinen in und heute unter Zeitgenoss.innen einen guten Ruf. Zumindest im Gegensatz zum mordenden, plündernden und vergewaltigenden Soldaten (auch: Söldner, Krieger, Konquistador, Eroberer, Legionär, Marineinfanterist) und auch im Gegensatz zum Betrüger (auch: Gauner, Gangster, Mafioso, Halunke, Schurke, Krimineller, Schwindler, Spekulant, Preistreiber, Wucherer). Der Kaufmann (sehr selten die Kauffrau) setzt sich mit dem Verkäufer oder dem Käufer zusammen, man verhandelt über Preise, Liefermengen und -fristen, und kommt schliesslich zu einem Abschluss, welchen man mit einem Umtrunk begiesst. Alles geschieht sehr friedlich und zivilisiert – und auf Augenhöhe, wie die beiden Reliefs am Bahnhof zu belegen scheinen.
Doch im 18. und 19. Jahrhundert, als die europäischen Staaten und die Eidgenossenschaft mit dem leading factor der Textilindustrie ihre Industrialisierung und ihren Aufstieg zu den Masters of the Universe lancierten, hat man mit den Sklavinnen und Sklaven auf den Baumwollfeldern der Amerikas nicht verhandelt. Ihre Arbeit war Zwangsarbeit und Gratisarbeit und war im fertigen Produkt «Baumwolle» bereits eingepreist. Nämlich mit einem Wert von Null. Das gleiche galt für den Kakao, der die schweizerische Schokoladeindustrie mitbegründete, für Zucker und Tee, welche zuerst die Ernährungsgewohnheiten der Oberschichten und dann diejenigen des Industrieproletariats umkrempelten, für Tabak und Kaffee, welche als tropische Genussdrogen aus der europäischen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind, und für Cochenille und Indigo, die der Textilindustrie lange als unersetzliche Farbstoffe dienten.
Bis heute sind wohl die meisten Handelsbeziehungen asymmetrisch, d.h. nicht auf jener gleichen Augenhöhe, wie sie Bildhauer Georg Josef Burgstaller aus Zürich am St.Galler Bankgebäude 1908 verewigt hat. Der Bergwerksarbeiter im Teenager-Alter, der aus dem engen Schacht im Kongo die seltenen Erden an die Oberfläche bringt, sitzt nicht mit am Tisch, wenn Käufer- und Verkäufer.innen des neuesten iPhones über die Preisgestaltung verhandeln. Die ältere Anwohnerin des von der Glencore-Kohlemine in Bolivien verschmutzten Flusses ist nicht dabei, wenn sich die «Preisbildung» in der Energiebranche vollzieht. Die Industrienationen des Westens haben ungleich mehr Verhandlungsmacht als die armen Länder des globalen Südens, wenn es um systemrelevante Rohstoffe geht. Auch heute noch gilt gewissermassen die Unterscheidung zwischen «Kulturvölkern» (der industrialisierte euro-amerikanische Norden) und «Urvölkern» (die LIC, d.h. die low income countries Afrikas, Asiens und Lateinamerikas).
Nach dem zweiten Hermes entdeckte ich den dritten, dann den vierten, dann den fünften. Ich begann, die Stadt, in der ich seit 67 Jahren lebe, mit einem Hermes-Merkur-Scan-Blick zu durchstreifen. Der Gott des Handels fand sich als massives Relief hoch oben an Repräsentativbauten, als feinziselierter Fassadenschmuck, als «Türsteher», als Gemälde und auch in der Toponymie bzw. der Geschäftswelt (Merkurstrasse, Merkatorium, Merkur Confiserie, Hermes Personalberatung). Mittlerweile kenne ich rund 25 Darstellungen von Merkur/Hermes im öffentlichen Raum der Stadt St.Gallen, und ich werde den Verdacht nicht mehr los, dass die Verehrung bzw. symbolische Präsenz dieses antiken Gottes bei uns (wie auch z.B. in Hamburg) ein Teil unserer Lebenslüge ist: Wir sind ja nur eine harmlose Handelsnation (oder -stadt), wir haben nur Geschäfte gemacht. Wir haben keine Flotten losgeschickt, keine Kolonien erobert, keine Kriege um Einflusszonen geführt.
Ich habe nun ein «Kopfgeld» ausgesetzt: Wer mir einen Merkur/Hermes zeigt, den ich noch nicht kenne, bekommt 20 Franken. Ich habe die Summe bisher erst einmal auszahlen müssen bzw. dürfen und schliesse keine Stadtführung mehr ab, ohne nicht auf die schöne antike Pointe hinzuweisen. Den Griech*innen galt Hermes nicht nur als der Gott des Handels und der Kommunikation, sondern auch als «Gott der Diebe».
Foto: Hans Fässler